Keine Frage, die Gesamtschule hatte eine schwere Jugend. Dr. Gerfried Stanzel leitet seit 25 Jahren die erste Gesamtschule des Kreises und zieht im Interview eine gemischte Bilanz. Kritik übt er an der Schulpolitik.
„Festhalten am System ist eine Lebenslüge“DAS INTERVIEW mit Gesamtschulleiter Dr. Gerfried Stanzel über den Erziehungsauftrag, Politik und Ideale
Leopoldshöhe. Die „rote Kaderschmiede“, wie sie anfangs genannt wurde, ist in die Jahre gekommen. Die erste Gesamtschule im Kreis startete 1977 als Modellversuch, 1981 etablierte sich der Ganztagesbetrieb weiter und Dr. Gerfried Stanzel wurde Schulleiter. LZ-Redakteurin Astrid Sewing sprach mit dem Leiter der Felix-Fechenbach-Gesamtschule in Leopoldshöhe über die Anfänge, die Vorurteile, die persönlichen Ziele und die Schulpolitik.
Dr. Stanzel, wie sieht die ideale Schule aus?
Stanzel: Die Schüler stehen im Vordergrund. Sie haben den Anspruch, dass wir sie angemessen und individuell fördern und gleichzeitig Leistung angemessen einfordern. Dieses Prinzip „Fördern und Fordern“ ist eine der Leitideen unserer Schule. Dazu gehört auch, die individuellen Fähigkeiten zu erkennen und Begabungen zu entwickeln, was gleichzeitig bedingt, dass Bildungschancen so lange wie möglich offen zu halten sind.
Sie haben sich für die Gesamtschule entschieden, in einer Zeit, als das ein umstrittener Modellversuch war. Warum?
Stanzel: Für mich war es ein Glücksfall während meines Referendariats gleichzeitig an einem Gymnasium und an einer Gesamtschule unterrichten zu können. Im Gymnasium stand das Fach im Vordergrund, an der Gesamtschule der Schüler. Damit war die Entscheidung für meine berufliche Laufbahn klar.
Trifft Sie die Kritik, dass Gesamtschüler weniger lernen würden?
Stanzel: Das wird vereinzelt sehr unbedarft und unverantwortlich gesagt, denn der Weg an der Gesamtschule ist anders. Nicht jeder geht zum Abitur, dies kann deshalb auch nicht der Maßstab für alle sein. Unsere Erfahrung ist, dass unsere Schülerinnen und Schüler gute Aussichten sowohl im Studium wie im Berufsleben haben, egal welchen Abschluss sie erreichen. Dies trifft sowohl auf unsere ersten Abgänger zu, die wir vor 24 Jahren hatten, und gilt auch in der heutigen Zeit, in der es schwierig ist, eine Lehrstelle zu bekommen. Soziale Verantwortung und Teamfähigkeit sind zusätzliche Kompetenzen, die wir vermitteln, die für Arbeitgeber zunehmend von größerer Bedeutung sind.
Was erfüllt sie mit Stolz?
Stanzel: Wenn unsere Schülerinnen und Schüler soziales Engagement zeigen, wie etwa mit den beiden UNICEF- Sammelaktionen für Kinder in Irak und in Pakistan. Des weiteren wenn sie kreativ sind, wenn sie gelernt haben, schwierige Herausforderungen zu bewältigen und wenn sie sich für ihre Schule und ihre Mitschüler einsetzen.
Was ist für Sie Autorität? Duzen die Schüler die Lehrer?
Stanzel: Autorität ist eine persönliche Ausstrahlung, die man nicht von anderen sich gegenüber einfordern kann. Beide Seiten müssen respektvoll miteinander umgehen. Dazu gehört, dass Schüler merken, ihre persönliche Entwicklung mit Höhen und Tiefen wird von den Erwachsenen sowohl von den Eltern wie auch den Lehrkräften ernst genommen. Dies hängt nicht von der Anrede ab, wobei an unserer Schule die Lehrerinnen und Lehrer nicht von den Schülern geduzt werden.
Und die Grenzen?
Stanzel: Der Ton macht die Musik, schließlich hat man keine Roboter vor sich sitzen. Besonders in der 8. Klasse haben viele einen pubertären Durchhänger, dafür muss man auch Verständnis haben. Wir sind Pädagogen, und wenn wir unseren Beruf ernst nehmen, dann wissen wir trotz aller Mühen damit angemessen umzugehen. Kinder und Jugendliche suchen Halt und sie wollen auch, dass wir Regeln aufstellen und darauf achten, dass sie eingehalten werden.
Sie unterrichten Mathematik und Physik. Macht das nicht einsam?
Stanzel: Diese Fächer werden oft zu abstrakt und zu theoretisch vermittelt, was auch daran liegt, dass die Vorbereitung für einen stärker handlungsorientierten Unterricht mit mehr Experimenten sehr aufwändig und nicht immer leistbar ist. Aber einsam? Nein, es gibt schon viele Schüler, die man dafür motivieren kann.
Was wünschen Sie sich für Ihre Schule?
Stanzel: Dass wir bald die notwendige bauliche Erweiterung für den Ganztagsbereich bekommen.
Und das Umfeld? Welche politischen Leitlinien wünschen Sie sich?
Stanzel: Schulreformen sollten weniger durch wahltaktische Überlegungen als durch Pädagogik und Lernpsychologie bestimmt werden. Wichtig sind Rahmenbedingungen, die ein positives Lernklima für die gesamte Schulzeit schaffen. Dies haben die führenden PISA-Länder schon vor etwa 20 Jahren erkannt und durch pädagogische Reformen dafür gesorgt, dass alle Kinder länger gemeinsam lernen, während hier ständig nur Lehrpläne sowie Ausbildungs- und Prüfungsordnungen, aber nicht das antiquierte Schulsystem verändert wurden.
Ist alles vergeblich gewesen, was die letzte Regierung und die amtierende auf den Weg gebracht hat?
Stanzel: Positive Ansätze gibt es bei uns; so finde ich es beispielsweise gut, dass es künftig externe Schulinspektionen geben wird. Deren Ergebnisse müssen dann sinnvoll rückgekoppelt und in verpflichtende Fortbildungen eingebunden werden. Auch einige andere Neuregelungen sind sinnvoll, wie die frühe, individuelle Förderung, dass man sich um alle gleich kümmern muss und die Idee der eigenverantwortlichen Schule. Aber die Zementierung der viel zu frühen Selektion ist da kontraproduktiv und nahezu einmalig in der Welt. Das Festhalten am gegliederten Schulsystem ist eine unserer Lebenslügen und deshalb kann man keineswegs das neue Schulgesetz als eines der modernsten bezeichnen.
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